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Es gibt so Tage…


…da reicht es, wenn man sie einmal erlebt und dann ist’s gut. Bei mir war der Dienstag so ein Tag. Und der Mittwoch. Aber eigentlich fing alles schon am Montagabend an. Nämlich mit Zahnschmerzen.

Vor ein paar Wochen hatte ich eine neue Füllung in einem Backenzahn bekommen, die sich in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder gemeldet hat. Da ich wusste, dass mir eine längere Wurzelbehandlung bevorstünde, wenn diese Füllung nicht hielt, was sie versprach, hatte ich die Zahnschmerzen immer gepflegt verdrängt – in der Hoffnung, dass sie irgendwann von alleine verschwinden oder wenigstens nicht schlimmer würden. Zumindest hoffte ich, einen erneuten Zahnarztbesuch bis nach unserem größten Event in diesen Herbst, unserem Lehrerkonzert, rauszögern zu können.

Dieses Lehrerkonzert war ein Projekt, das größtenteils in meinen Händen lag, sowohl in der Organisation als auch in der Durchführung. Denn auch wenn – bzw. gerade weil – der Sinn des Konzertes hauptsächlich darin lag, dass wir Musiklehrer uns als Solisten präsentieren, so bedeutete das, dass überdurchschnittlich viel Arbeit für den Pianisten ansteht, weil ja ein Solist meistens einen Begleiter braucht – und das ist (wenn gerade kein Orchester zur Hand ist) eben der Pianist.

Und ich bin leider nicht die abgeklärte Pianistin, die Begleitungen einfach so locker aus dem Ärmel schüttelt, und sich darauf verlässt, dass der Solist des Ding schon reißen wird – jedenfalls nicht, wenn das ganze auch noch öffentlich stattfinden soll. Aber ich wollte es ja nicht anders und wusste seit Mai, was da auf mich zukommt und ich habe mich wissentlich und mit großer Vorfreude auf dieses Projekt eingelassen.

Doch dann schlug Murphys Law („Whatever can go wrong will go wrong“) gnadenlos zu.

Der Presslufthammer im Kopf

Zahnschmerzen also am Montagabend – 48 Stunden vor dem Konzert – und zwar in der Preisklasse „Presslufthammer zwischen Schädeldecke und Kinn.“ Der gefühlte Presslufthammer fand seine physische Entsprechung in Form einer Großbaustelle in unserem Garten, genauer gesagt: an der Bahnlinie, die 50 m hinter unserem Schlafzimmer verläuft. Und wann sonst könnte man dort unter einer eigens angekarrten Flutlichtanlage besser Bäume fällen, Schwellen austauschen und die Schienen mit Eisenhämmern zurechtbiegen als zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens? Eben. Aber war ja auch schon egal, denn mein Backenzahn verhinderte ohnehin jede Form von Schlaf.

Nach einer durchwachten Nacht rief ich gleich morgens um sieben beim Zahnarzt an und bekam erfreulicherweise noch vor der Mittagspause einen Akuttermin, allerdings nicht bei „meiner“ Zahnärztin, sondern bei einer Kollegin in der gleichen Praxis. Luxusproblem, in meiner Situation, 32 Stunden vor unserem Lehrerkonzert.

Unter lokaler Betäubung wurde dann rasch die schmerzende Füllung entfernt und der Zahn provisorisch wieder verschlossen. Als wir gerade einen Folgetermin für den ersten Teil der Wurzelbehandlung vereinbaren wollten, merkte ich plötzlich, wie mir schwindlig wurde. Zunächst dachte die Zahnärztin an leichte Kreislaufprobleme wegen eventueller Wurzelbehandlungsangst, außerdem hatte ich ja gerade eine halbe Stunde gelegen, da kann einem beim Aufstehen schonmal das Blut in den Beinen versacken. Ich legte mich also wieder auf den Behandlungsstuhl und wartete, dass mein Kreislauf wieder in Gang käme. Aber Pustekuchen! Stattdessen merkte ich, wie plötzlich innerhalb kürzesterer Zeit meine Zunge und mein Hals anschwollen und ich kaum noch Luft bekam.

Ab diesem Augenblick habe ich für eine Weile nur noch schemenhafte Erinnerungen. Ich weiß noch, dass plötzlich sehr viele Leute im Raum herumwuselten, darunter auch mein Hausarzt, der im selben Gebäude praktiziert, und dass die vielen Leute sehr viele verschiedene Dinge gleichzeitig taten. Ich erinnere mich an einen Arm, der ausholt und mir mit voller Wucht eine Spritze durch die Jeans in den Oberschenkel rammt. Ich erinnere mich, dass da auf einmal ein Schlauch in meinem Arm war und ich erinnere mich auch noch, wie mein Hausarzt mit dem Notruf telefonierte und die Worte fielen: „das ist eine Prio 1“ und ich noch dachte „ah super, die Skala geht ja bestimmt von 1-10 und 1 ist dann die niedrigste Prioritätsstufe, also alles halb so schlimm.“ Ab da hab ich einen Filmriss.

Vom Zahnarzt direkt in die Notaufnahme

Kurz vor der Ankunft im Krankenhaus geht mein Film weiter: Auf meiner Nase sitzt eine Maske mit fürchterlichem Gestank, und ich liege rückwärts fahrend im Krankenwagen – dabei wird mir doch schon auf dem Beifahrersitz bei vorsichtiger Fahrweise schlecht. Jetzt also hinten, liegend, rückwärtsfahrend, mit Stinkemaske im Gesicht.

„Hallo Annika, ich bin Martin, wir fahren dich gerade ins Krankenhaus, du hattest einen anaphylaktischen Schock, vermutlich wegen der Betäubungsspritze, die du beim Zahnarzt bekommen hast“ fasst der Mann im grün-gelben Norwegerpulli neben mir die Situation zusammen. „Wie geht’s dir? Kannst du mir Deine Personennummer sagen?“

Schock hin oder her, aber bei dieser Fahrweise kann einem ja nur übel werden. Leider ist Sprechen gerade etwas, was mein geschwollener Hals und meine taube Zunge nur rudimentär mitmachen, im übrigen fühlt sich mein Gehirn an wie Wackelpudding. Und jetzt soll ich also erklären, dass der Mensch am Steuer gefälligst nicht so rasen soll und auch noch meine Personennummer auf schwedisch aufsagen? Ganz selten gibt es ja doch so Momente, wo mein Sprachzentrum im Hirn lieber muttersprachlich kommuniziert als in einer fremden Sprache, auch wenn die Sprache hier schon lange kein Problem mehr für mich ist. Irgendwie versteht der grüne Mann aber doch, dass die Maske mit dem eklig stinkenden Gas jetzt ganz fix durch eine ordinäre Kotztüte ersetzt werden sollte.

Bevor diese jedoch zur Anwendung kommt, erreichen wir glücklicherweise das Krankenhaus. Martin kontrolliert ein letztes Mal Atmung, Puls, Sauerstoffsättigung und den Schlauch in meinem Arm. Anscheinend ist er mit allem zufrieden und zieht mich aus dem Rettungswagen. Kaum sind wir durch die Krankenhaustür, bekomme ich ein Armbändchen mit meiner Personennummer und – einem Strichcode. „Cool, die haben schon auf mich gewartet, ziehen die mich jetzt gleich durch eine Scannerkasse?“ (Das war tatsächlich der erste Gedanke, der mir durch mein Wackelpuddinghirn schoss.)

Statt durch die Scannerkasse gezogen wurde ich jedoch erstmal rundum verkabelt und verschlaucht und dann in Sichtweite der Rezeption abgestellt. Ein Arzt erklärte mir, dass ich jetzt eine ganze Weile hier liegen würde, ich sei kein akuter Fall mehr, jetzt sollten Adrenalin, Cortison, Antihistaminika und eine Tüte Kochsalzlösung erstmal ihren Job in meinem Körper verrichten.

Die folgenden Stunden zur Untätigkeit verdammt, hätte ich ja sinnvollerweise dazu nützen können, ein wenig meines fehlenden Nachtschlafes nachzuholen, aber das verhinderte das Adrenalin, das mir als Sofortmaßnahme gegen den allergischen Schock in den Oberschenkel gerammt und in die Nase geblasen worden war, zuverlässig. Nach zwei Stunden fühlte ich mich zum Bäume ausreißen fit, nach weiteren zwei Stunden Adrenalininfusion durfte ich nach Hause gehen. Statt nach Hause habe ich mich jedoch von Jonas mit einem Mietauto von der Stadt direkt zu unserer Generalprobe fahren lassen, unser Auto stand ja noch beim Zahnarzt.

Noch 25 Stunden bis zum Konzert.

Meine Kollegen, die ich vom Krankenhaus aus angerufen hatte, um mein unerwartetes Ausbleiben am Nachmittag zu erklären (schließlich hätte ich nachmittags einen Haufen Klavierschüler gehabt), staunten nicht schlecht, als ich auf einmal leicht aufgekratzt, aber pünktlich zur Generalprobe auf der Matte stand um das Ding jetzt durchzuziehen. Man war gerade am Überlegen über welche Kanäle man das Konzert alles absagen müsse. Ich sah das ganze eher sportlich, „Training unter verschärften Bedingungen“ sozusagen, höher als jetzt konnte mein Adrenalinpegel konzertbedingt kaum mehr ansteigen.

Nach der Generalprobe, die weder besonders gut noch besonders schlecht, sondern einfach normal war (das war auch das einzige Normale an diesem Tag) fuhr ich nach Hause, um dort vor verschlossener Tür festzustellen, dass ich am morgen im Presslufthammerzahnschmerzdelirium den falschen Schlüssel eingesteckt hatte und nicht ins Haus kam. Unser Vermieternachbar mit Ersatzschlüssel war weder zuhause noch erreichbar, die anderen Nachbarn ebenfalls nicht und Jonas noch zwei Stunden bei einer Chorprobe. Draußen waren 8°C und Nieselregen und ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Definitiv der Tiefpunkt des Tages.

Noch 22 Stunden bis zum Konzert.

Mir blieb also nichts anderes übrig, als nochmal in die Stadt zu fahren – inklusive Vollbremsung wegen zweier Rehe (nein, das  denke ich mir jetzt nicht wegen der Dramaturgie aus, die waren da tatsächlich!)  – um Jonas samt Hausschlüssel aus der Chorprobe zu holen. Sinnigerweise fuhr Jonas dann gleich mit nach Hause, er traute meinem Geisteszustand wohl nicht mehr viel zu.

Im Adrenalinrausch

Eine durchwachte Nacht und ein solcher Tag hätten ja theoretisch beste Voraussetzungen für eine ordentliche Portion Schlaf sein können, aber… denkste! Zwar schlief ich zwischen Stunde 21 und Stunde 19 vor Konzertbeginn tatsächlich ein wenig, aber dann war Schluss. Mein Adrenalinrausch vereitelte jeden weiteren Schlaf und ich lag bis zum Weckerklingeln (11 Stunden vor Konzertbeginn) ununterbrochen wach.

Nach inzwischen schon zwei durchwachten Nächten am Stück und neu hinzugekommenem Herzrasen am Morgen, war der erste Weg daher der zum Telefon, um meinen Unterricht abzusagen und einen Termin beim Hausarzt zu machen. Der bestätigte meine Vermutung, dass das eben die Nebenwirkung des Adrenalins seien, aber da das EKG soweit unauffällig war, schickte er mich mit einer Schachtel Beruhigungspillen wieder nach Hause.

Nun habe ich aber noch nie Beruhigungsmittel genommen und hatte Angst, dass ich am Ende im Konzert wegdösen würde (nur noch 7 Stunden!), daher verzichtete ich darauf, meinen Kreislauf nach dem Adrenalinrausch jetzt mit Gewalt wieder runterzufahren und beschloss stattdessen, am Nachmittag etwas Sinnvolles zu tun: nämlich meinen Job. Nach sechs Klavierschülern auf Autopilot galt meine größte Sorge drei Stunden vor Konzertbeginn vor allem der Frage, ob mein Adrenalinpegel mich auch noch so zuverlässig durchs Konzert bringen würde oder ob mein Brennstoff kurz vor der Ziellinie ausgehen würde.

Ich funktioniere, aber der Kopierer streikt

Meine zweitgrößte Sorge galt den 100 Programmheften, die ich noch ausdrucken und falten musste. Als nach 40 Programmheften unser Kopierer hartnäckig piepte und nach einem Tonerwechsel verlangte, hätte ein weniger perfektionistisch veranlagter Mensch als ich vermutlich mit den Schultern gezuckt und gesagt „egal, besser als gar nichts, schaun die Leute halt zu zweit ins Programm“, aber ich in meinem Adrenalinrausch wollte jetzt meine 60 fehlenden Programme haben, basta!

Also die Datei an Jonas geschickt, der noch in seiner Musikschule war und ihn beordert, die restlichen Programme ausdrucken und falten zu lassen (die haben den Edelkopierer, der selbst falten kann).

Power-Entspannung unter Hochdruck

Zwei Stunden vor Konzertbeginn fuhr ich nach Hause und schaffte es tatsächlich, noch 45 Minuten autogenes Training einzuschieben, was auch nur zweimal von Jonas‘ Anrufen unterbrochen wurden (Telefonat Nr. 1: „Die eine Farbpatrone ist leer, das sieht jetzt voll Sch* aus, was soll ich machen?“ – „Nimm farbiges Papier und druck schwarz-weiß!“ Nr. 2: „Ich hab jetzt 40 Programme und der schwarze Toner ist leer.“ – „Ist jetzt egal! Du, ich muss mich jetzt noch ganz schnell fertig entspannen!“)

Planmäßig machte ich mich 45 Minuten vor Konzertbeginn auf den Weg. Die vornehme Blässe nach zwei durchwachten Nächten war unter einer kosmetischen Farbschicht verschwunden. Ich, die ich mich quasi nie schminke, hatte an diesem Abend das dringende Bedürfnis, dass nicht jeder Konzertbesucher meine derzeitige Verfassung an meiner Hautfarbe ablesen konnte.

Als Jonas 10 Minuten vor Konzertbeginn mit seinen 40 Programmen auftauchte, überkam mich zum ersten Mal an diesem Abend das Gefühl, dass dieses Konzert vielleicht doch keine Katastrophe werden könnte. Der Saal war voll, der Steinway frisch gestimmt, mein Schüler, der mir an diesem Abend die Seiten umdrehen würde, zuverlässig und die Stücke gut geprobt.

Das Konzert

Das erste Stück, eine filigrane Flötensonate von Francis Poulenc war vielleicht nicht die beste Wahl, um zittrige Finger zu Konzertbeginn einzuspielen, dachte ich nach der ersten Seite, aber nachdem ich das heikle Zwischenspiel mit den 32teln in Des-dur unfallfrei überlebt hatte, fing es langsam an Spaß zu machen.

Das zweite Stück des Abends bestritt der Klarinettenkollege ohne mich, danach kam mein Solostück. Ich war in der Auswahl auf Nummer sicher gegangen und spielte die Toccata von Aram Chatchaturian – ein Stück, das mich seit meiner Abi-Zeit begleitet, das ich aber tatsächlich noch nie öffentlich gespielt habe. Die großgriffigen Akkorde und ein zugegebenermaßen sehr großzügiger Pedaleinsatz verschleierten zuverlässig jede Restnervosität, und endlich stellte sich dieser Konzertflow ein, bei dem einfach alles passt. Das heißt nicht, das alles fehlerfrei klappte, aber es fühlte sich alles im Augenblick furchtbar richtig an.

Danach folgte ein Angeberstück für Trompete von Joseph Guy-Ropartz (dem Großen…), auch hier liefen die kitzligen Zwischenspiele, vor denen ich am meisten Bammel hatte, wie am Schnürchen. Die letzten zwei Seiten „Schlussgeklingel“ oder „Applausbegleitung“, wie mein Theorielehrer an der Hochschule hochtrabende Schlüsse immer etwas abfällig bezeichnete, waren einfach nur – pardon – geil. So richtig drauflosrotzen und in ständigen C-Dur- und Cis-Dur-Akkorden die Klaviatur rauf- und und runterdonnern. Ob das jetzt musikalisch besonders wertvoll war, dazu mag ich nichts sagen, das Publikum war jedenfalls begeistert.

Mein letzter ernstzunehmender Einsatz an diesem Abend war dann das Virtuosenstück für Geige, der Czárdás von Vittorio Monti. Vom Klaviersatz her nicht besonders schwer, dafür anspruchsvoll im Zusammenspiel, wegen einiger Tempowechsel. Mit dem Wissen, dass die großen Brocken des Abends bereits abgearbeitet waren, konnte ich mich jetzt mental zurücklehnen und es einfach laufen lassen. Und es lief!

Anschließend übernahm der Kollege von der Populärkultur die Bühne und erst zum großen Finale war ich wieder gefragt. Dass ich da dann ein paar Wiederholungen verpennt habe, und zwischendurch nicht mehr wusste, ob das aktuelle Stück eigentlich gerade in B-Dur oder F-Dur steht, ist wahrscheinlich nur mir aufgefallen.

Der gute alte Murphy hatte sich wohl in den letzten 48 Stunden zu sehr an mir abgearbeitet, als dass er jetzt noch gegen meinen Adrenalin-Cocktail angekommen wäre. Ich möchte behaupten, noch nie hat mir ein Konzert, bei dem ich am Klavier saß (Chorkonzerte sind was ganz anderes), so unglaublich viel Spaß gemacht. Während des Konzertes, wohlgemerkt. (Hinterher kann man ja immer sagen, dass es doch irgendwie ganz nett war.)

Einen solchen Vorspann zu einem Konzert – mit Zahnschmerzen, zwei durchwachten Nächten, einem allergischen Schock, zwei Rehen, zwei kaputten Kopierern und einem Adrenalinrausch, der heute, am Freitag, immer noch anhält – brauche ich aber so schnell nicht wieder. Ich mach dann jetzt mal Wochenende…