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Zwischen Wollen und Sollen


Gerade haben wir eine Woche Herbst“ferien“ hinter uns. „Ferien“ in Anführungszeichen, weil die Schüler zwar Ferien, wir Lehrer aber Fortbildungstage haben. Da ich ja gerade Teilzeitstudent an der Musikhochschule in Ingesund/Arvika im Fach Orchesterleitung bin, passte es ganz gut, dass das zweite von insgesamt fünf Wochenendseminaren an diesem Wochenende lag, dieses Mal in Mjölby, denn im Anschluss an die zwei Tage Kurswochenende fand gleich noch das zweitägige Symposium für Leiter von Jugendorchestern statt.

Auch diesmal konnten unsere Dozenten und Kurskollegen aus Norwegen nur via Zoom teilnehmen, was zu teilweise absurden Unterrichtssituationen führte. An Vorlesungen und Seminare vor dem Bildschirm haben wir uns ja alle inzwischen gewöhnt, aber ein Orchester aus einem Ipad zu dirigieren ist eben doch für alle Beteiligten irgendwie… meeeh.

Ganz klein: Der Kurskollege im iPad dirigiert uns aus Norwegen, daneben sitzt unser Kursleiter.

Aber das war eigentlich nur ein Randphänomen dieser vier Tage. Aus Gründen war dieses Jahr die Teilnehmerzahl des Symposiums auf 40 begrenzt, in einem Saal für über 400 Personen, und man merkte, wie ausgehungert alle waren, endlich mal wieder spielen zu dürfen.

Beim Symposium mit Masterclass waren wir ein paar mehr Teilnehmer – endlich mal wieder ein richtiges Orchester.

Beim Spielen waren alle durch Plexiglasscheiben voneinander getrennt, plus 1,5m Abstand. Auch das drumherum – Hotel, Mahlzeiten, Kaffeepausen – war alles richtig toll coronamäßig organisiert, sodass man nie jemandem zu nah kommen musste, und alle fünf Meter stolperte man über Handdesinfektionsmittel.

An der Hotelrezeption: „Dippe deinen Finger (in Desinfektionsmittel), bevor du deinen Code eingibst!“

Am Ende der vier Tage fühlte man sich in Ideen mariniert und hatte so richtig Motivation für die Orchesterarbeit getankt. Und sowieso und überhaupt war die Welt mal für ein paar Tage in Ordnung, auch weil man vier Tage lang keine Zeit, Lust und Gelegenheit hatte, ins Handy zu gucken um die Nachrichtenlage zu checken, sondern einfach mal einer Bubble der Glückseligkeit leben durfte.

Zwei Tage später, am Donnerstag, wurden für fünf Regionen Schwedens „verschärfte Empfehlungen“ verkündet.

Nun hat es Schweden ja bekanntermaßen nicht so mit Verboten und gesetzlich verankerten Einschränkungen des öffentlichen Lebens, dennoch haben die „Empfehlungen“ der Folkhälsomyndigheten denselben Stellenwert einer deutschen Verordnung – mit dem kleinen Unterschied, dass man nicht belangt werden kann, wenn man dagegen verstößt. In Schweden regelt das die Selbstkontrolle, bzw. die soziale Angst davor, aus der Reihe zu tanzen.

Die „verschärften Empfehlungen“ die jetzt also in Stockholm, Västra Götaland, Skåne, Uppland und Östergötland und damit für rund 6 der 10 Millionen Einwohner Schwedens gelten, umfassen unter anderem:

  • Vermeiden von Aufenthalt in geschlossenen Räumen wie z.B. Geschäfte, Einkaufszentren, Bibliotheken, Museen, Theater, Bibliotheken, Schwimmhallen und Fitnesscentern. Ausgenommen sind Supermärkte und Apotheken.
  • Keine Teilnahme an Konferenzen, Vorstellungen, Konzerten, Training oder Wettkämpfen. Ausgenommen ist Training für Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren sowie Profisport.
  • Keine Feste und sozialen Kontakte mit Menschen außerhalb des eigenen Haushalts.

Im Vergleich zu wie es in Schweden im Frühjahr war, wo nur Abstand halten, Händewaschen und bei Symptomen zuhause bleiben kommuniziert wurden, sind das jetzt deutlich schärfere Maßnahmen und glaube ich ziemlich ähnlich mit dem, was ab Montag auch in Deutschland gilt. Abgesehen davon dass niemand wegen Verstößen bestraft werden kann.

Als Betriebsrat wurde Jonas gestern zu einer außerordentlichen Zoomkonferenz einbestellt, um zu diskutieren, was das jetzt für uns an der Kulturschule heißt. Da wir dem Selbstverständnis nach mehr Schule als Freizeitaktivität sind, wird der Unterricht weiterhin stattfinden, allerdings keine Konzerte, Schüler dürfen sich nicht mehr in den Korridoren aufhalten, Eltern sollen draußen warten. Was für die Orchester gilt, werden unsere Chefs im Einzelfall beurteilen. Hmpf.

Freitagmorgen war ich noch das letzte Mal beim Schwimmtraining, um 12:00 sollte die Schwimmhalle für die Öffentlichkeit dicht machen. Wir waren noch zu dritt. Jeder hatte drei Bahnen für sich. Yeah.

Leere Umkleidekabine morgens um 6:20, bevor um 12:00 alle Schwimmbäder dicht machen müssen.

1. Dezember: Flopp, flopp, flopp


Jedes Jahr am Samstag vor dem ersten Advent stehen wir mit unserem Orchester bei Einbruch der Dunkelheit auf der Bühne im Park. Meist leitet der Lieblingskollege das Orchester und ich stehe am Glockenspiel oder an der Klarinette. Dieses Jahr ist der Lieblingskollege aber verhindert, sodass mir die Ehre zuteil wird, den Advent im Ort einzuläuten. Wettermäßig ist es einer der besseren Jahrgänge, 2 Grad plus und fast kein Regen, und kein Wind. Kälte ist okej, Regen ist so mee, aber Wind ist echt doof, wenn man draußen spielt, dann fliegen immer die Noten und die Töne weg.

Rund um den Park stehen überall marschaller, tellergroße Teelichter mit fingerdickem Docht. Neben der Bühne verkauft die Händlervereinigung warmen Glögg und Pfefferkuchen, damit das Publikum zu den kalten Füßen nicht auch noch kalte Hände kriegt.

Die meisten der rund 150 Zuhörer haben eh Handschuhe an, wodurch der Applaus zwischen den Stücken immer nur ein gedämpftes flopp, flopp, flopp ist…

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Nachdem wir etwa eine Dreiviertelstunde auf der Bühne gespielt haben, zieht der ganze Tross 200 m weiter, zum Marktplatz. Das Orchester gruppiert sich um den Baum – keine Tanne, keine Fichte, sondern ich glaube ein Ahorn –, der Weihnachtswichtel (aka Tankstelleninhaber) klettert auf eine Leiter, und als ich den Einsatz zu unserem Signaturmarsch gebe, drückt der Wichtel auf den Knopf. Der Baum leuchtet. Vor mir tätäterätätäät es, hinter mir floppfloppfloppt es. Der Advent hat begonnen.

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(Fotos: jemand von den Orchestereltern)

Fortbildung in Oslo


Der Herbst ist jobbmäßig immer eine Herausforderung: weil das Herbsthalbjahr von August bis Weihnachten etwas kürzer ist als das Sommerhalbjahr von Januar bis Juni, weil es immer ein paar Wochen braucht, bis der Stundenplan mit neuen und alten Schülern endlich steht, und weil man mit neuen Schülern und neu zusammengesetzten Orchestern und Ensembles trotzdem bis spätestens Advent was Brauchbares auf die Beine gestellt haben muss. Unterbrochen wird das Herbsthalbjahr lediglich von einer Woche „Herbstferien“ die immer in Kalenderwoche 44, also so um den ersten November liegt. Herbstferien deswegen in Anführungszeichen, weil die Woche nur für die Schüler frei sind, wir Lehrer aber in dieser Woche „Studientage“ haben und angehalten sind, Fortbildungen zu besuchen oder Projekte mit Kollegen zu planen.

Dieses Jahr war ich zusammen mit einem Kollegen in Oslo auf einer dreitägigen Tagung für Blasorchesterdirigenten. Studienobjekt war das oder vielmehr die Schulorchester von Lørenskog, einem Vorort von Oslo. In Norwegen sind Orchester etwas anders organisiert als in Schweden oder Deutschland: die Musikschulen haben meist keine eigenen Orchester, dafür hat jede Schule (oder zumindest sehr viele Schulen) einen Förderverein, der wiederum einen Dirigenten beschäftigt, der in Zusammenarbeit mit den Musikschulen ein oder mehrere Schulorchester leitet. Und in Lørenskog funktioniert das offenbar besonders gut, wir wir und ca 100 weitere Tagungsteilnehmer aus ganz Schweden feststellen konnten: vier aufeinander aufbauende Kinder- und Jugendorchester für verschiedene Altersstufen, ein „Veteranorchester“ für Leute, die auch nach ihrer Schulzeit weiter im Orchester spielen wollen, ein Orchester für Menschen mit verschiedenen Funktionsvariationen, eine Bigband und ein Schlagwerkensemble. Das Ganze geleitet von einem Team, bestehend aus einem hauptamtlichem Dirigenten, einem Ensembleleiter/Arrangeur und zwei weiteren Teilzeitkräften. Einzelunterricht haben alle Kinder an der örtlichen Kulturschule.

Der hauptamtliche Dirigent war auch der Tagungsleiter und wir vermuten bis heute, dass der Mann entweder ADHS hatte oder der norwegische Staat Speed an seine Lehrkräfte austeilt oder beides zusammen. Unfassbar, welche Energie in diesem Mann steckte!

Nach einem vierstündigen Jubiläumskonzert anlässlich des 80jährigen Bestehens des Orchesters auf einem dreiteiligen Bühnenkomplex mit Licht- und Soundtechnik des norwegischen Rundfunks am Sonntagabend, erwarteten uns der Dirigent und der Arrangeur ab Montagmorgen um 9 mit einem bunten Strauß an Seminaren zum Thema Orchesterleitung und Jugendarbeit: angefangen von Probenmethodik und Motivation im Orchester, über „Wie baue ich eine funktionierende Schlagwerkssektion auf“, Schlagtechnik, „Arrangieren und Komponieren für Kinder- und Jugendorchester“, „Improvisation im Orchester“, eine Liveprobe mit einem der mittleren Orchester, Repertoirespiel und einem Meisterkurs Dirigieren für die Tagungsteilnehmer war so ziemlich alles dabei, was man in zwei Tage pressen kann. Ach ja, und eine „Shoppingtour“ zu Oslos größtem Notenladen war auch noch drin.

Mit anderen Worten: wir kamen zwar todmüde, dafür aber randvoll mit neuen Ideen wieder nach Hause. Bezahlt hat das Ganze übrigens hälftig unser Arbeitgeber und der nationale Verband schwedischer Blasorchesterdirigenten, welchem wir durch unseren Elternverein angeschlossen sind. Das Hotel war daher auch nicht von schlechten Eltern, ebenso wie das drei Gänge-Menü für die Tagungsteilnehmer und der Mietwagen, damit wir nicht mit unseren Privatautos ins verschneite Norwegen fahren mussten.

 

Für allgemeines Gelächter sorgte der Kellner, der beim abschließenden Tagungsdinner die schwedischen Gäste ausdrücklich um Entschuldigung für die norwegischen Bier- und Weinpreise bat, denn Getränke waren natürlich nicht inklusive.

Den Schwung aus der Fortbildung konnten wir dann direkt in unser Orchester mitnehmen, denn nur eineinhalb Wochen später sollten wir mit unserem Orchester und der Tanzkompanie der Kulturschule auf ein Festival nach Deutschland fahren…

 

Debut


Am vergangenen Montag hatte ich mein Debut am Dirigentenpult unseres traditionsreichen Jugendorchesters. Zum ersten Mal seit über 20 Jahren stand jemand anderes als der Lieblingskollege vor dem Orchester. Als ich Anfang September angefangen habe, meine Stücke für dieses Konzert einzustudieren, war das zunächst mal ungewohnt für alle Beteiligten. Für mich wahrscheinlich noch am wenigsten, ich habe ja durchaus schon in anderen Zusammenhängen dirigiert oder bin mal für einzelne Proben eingesprungen. Aber für das Orchester ist das schon eine Umgewöhnung, denn jeder Dirigent hat ja seinen eigenen Handstil und seine eigene Art zu proben und die allermeisten Mitglieder im Orchester haben nie unter einem anderen Dirigenten gespielt als dem Lieblingskollegen. Und auch der Lieblingskollege selbst, mit dem ich für dieses Programm immer die Plätze tauschte zwischen Dirigentenpult und Bassklarinette, hatte nach eigener Aussage beinahe vergessen, wie schön es sein kann, im Orchester zu sitzen und zu spielen, anstatt vorne zu stehen.

Für mich sind das nahezu perfekte Bedingungen was die Orchesterleitung angeht: ein Orchester, das mich kennt und anerkennt, obwohl ich dort zwar bisher kaum dirigiert habe, aber seit vier Jahren als Orchestermitglied und Mädchen für alles dabei bin und ein erfahrener Kollege, der – im übertragenen Sinne – hinter mir steht, mir nach den Proben Feedback gibt und gleichzeitig das Taktgefühl hat, mich so dezent zu coachen, dass das Orchester davon quasi nichts mitbekommt. Nichts ist ätzender als Kollegen, die meinen, einen vor Schülern kritisieren zu müssen und einem damit die Autorität abgraben.

Unter diesen Voraussetzungen war das erste Konzert eigentlich ein Kinderspiel. Trotzdem war ich ziemlich nervös. Und natürlich, hinterher im Video sieht man 1000 Dinge, die man hätte anders und besser machen können, wo man genauer hätte proben sollen, welche Einsätze präziser hätten kommen sollen, undsoweiter… Was das angeht, bin ich selbst mein größter Kritiker.

Umso glücklicher macht es mich, wenn sich Zuhörer hinterher bei mir bedanken, und feststellen, dass das Orchester unter mir anders klingt – anders, nicht schlechter, nicht besser – als beim Lieblingskollegen und dass die Stückauswahl gefallen hat. Und wenn Eltern sagen, dass ihren Kindern die Proben mit mir Spaß machen. Letzteres ist mir eigentlich das Wichtigste.

Von daher schäme ich mich auch nicht, hier zwei Videos vom Konzert am Montag einzustellen. Leider etwas dunkel, aber das lag daran, dass die Kamera von der Kanzel direkt ins Gegenlicht geguckt und daher die Lichtverhältnisse falsch berechnet hat. Wir spielen unsere Konzerte für gewöhnlich nicht im Dunkeln :-)

 

Neue Herausforderungen (2/2)


Im Januar fand bei mir jobtechnisch eine strukturelle Umorganisation statt, die im Wesentlichen die Ursache für die längere Blogpause war…

(Edit: Ein guter Freund meinte, ich solle das was hier ursprünglich stand, nicht so stehen lessen, daher habe ich den ersten Absatz unter ein Passwort gestellt. Weiterlesen: Neue Herausforderungen (1/2). Das Passwort ist die Antwort auf die Frage: Wo haben wir geheiratet?)

Wirklich viel besser ist es auch jetzt nach einem dreiviertel Jahr nicht geworden, aber ich habe meine engsten Kollegen noch mehr schätzen gelernt, als ich es ohnehin schon vorher getan hatte. Das war einer der wichtigsten Punkte, um den wir in der Umstrukturierung gekämpft haben, nämlich unser Kollegium von sieben Fachlehrern zu erhalten und nicht beliebig Personen durch die Gegend zu tauschen, nur weil wir jetzt von einer größeren Organisation geschluckt wurden.

Der Lieblingskollege fragte mich in den Sommerferien, ob ich mir vorstellen könnte, in unserem Orchester mehr Aufgaben zu übernehmen, als „nur“ organisatorische. Bisher hatten wir die Arbeitsteilung „er steht vor dem Orchester, ich dahinter“. Will heißen: er ist der Dirigent, bestimmt die künstlerische und pädagogische Ausrichtung des Orchesters, zieht Konzerte und Gigs an Land und redet mit den wichtigen Leuten und ich wurschtel im Hintergrund, erstelle Teilnehmerlisten, kümmere mich um Werbung, Elterninformation, Flugbuchungen etc. pp. und bin natürlich auch einfaches Orchestermitglied, entweder im Schlagwerk an den Malletsinstrumenten (Xylophon, Marimbaphon, Röhrenglocken, Glockenspiel) oder an der Klarinette, je nach Bedarf. Und wenn er dann mal krank war oder sonstwie verhindert, habe ich schon auch mal dirigiert, aber das passierte höchstens ein-zweimal im Jahr. Nun also die Frage, ob ich mir ein „Upgrade“ zur zweiten Dirigentin vorstellen könnte.

Hier ein Video von 2015, mit einem Filmmusikmedley von John Williams.

Nun habe ich ja im Studium auch vier Jahre lang das Fach „Dirigieren“ belegt, aber nie wirklich Gelegenheit gehabt, praktische Erfahrung im Orchester zu sammeln, ich war immer mehr im Fach Chordirigieren verankert. Das klingt jetzt für Musiklaien vielleicht echt nerdig, zwischen Chor- und Orchesterdirigenten zu unterscheiden, aber es sind wirklich zwei Paar Schuhe. Insbesondere was die Probenmethodik angeht, kann man sich in einem Orchester echt unbeliebt machen, wenn man es wie einen Chor behandelt (und umgekehrt).

Aber vor dem Hintergrund, dass mir durch die Umstrukturierung beim Job einige liebgewonne Arbeitsfelder entzogen worden waren, war des Lieblingskollegen Idee goldrichtig um mir wieder neue Perspektiven zu geben und mein geknicktes Selbst zumindest ein bisschen wieder aufzurichten. Mit dem Wissen, dass er über 20 Jahre lang alleiniger Chef für das Orchester war, ehrte mich die Frage besonders, denn sowas gibt man nicht „mal eben so“ an jemand anderes ab, auch nicht teilweise.

Und so teilen wir uns seit diesem Schuljahr jeden Montagabend den Platz am Dirigentenpult. Für mich gerade eine echte neue Herausforderung. Während er natürlich nach 20 Jahren eine Probe auch ohne Vorbereitung locker aus dem Ärmel schüttelt, sitze ich in meinen Hohlstunden vor meinen Partituren und übe, so wie man ein Instrument übt und überlege mir die nächsten Probenschritte.

Gleichzeitig – auch das ist neu – spiele ich dieses Jahr Bassklarinette im Orchester, wenn der Lieblingskollege dirigiert. Unsere Schlagwerkssektion habe ich die letzten zwei Jahre so gut erzogen, dass ich dort gerade nicht gebraucht werde, gleichzeitig fiel dieses Jahr unsere Bassklarinettistin aus. Vom höchsten Melodieinstrument Glockenspiel ins Bassregister zu wechseln… auch spannend.

Nun ist der Montag also mein persönlicher Höhepunkt der Woche. Heute war der Lieblingskollege verhindert und ich hatte erstmalig die zwei Stunden mit dem Orchester alleine. Und ich hab mich gefreut wie Bolle, als nach der Probe einer unserer Erwachsenen im Orchester, ungefähr gleichalt wie ich, der eigentlich nie was sagt, an mir vorbeilief, mir in den Oberarm boxte und rief „Bra jobbat!“ (Gut gemacht!)

Und ein Video vom letzten Herbstkonzert (2016).

Winter? Frühling? Sommer!


Vor zwei Wochen hat es das letzte Mal geschneit, gestern hatten wir bei unserem jährlichem Musikschul-Großkampftag „Musikens Dag“ – Tag der Musik mit 6 Stunden Non-stop Konzert auf der Freilichtbühne – um die 28°C und wir mussten zusehen, dass uns die kleinen Bläser nicht reihenweise in der prallen Mittagssonne umkippten. Als wir abends abbauten, war das E-piano auf der Bühne gelb von Blütenstaub. Und heute entdecken wir, dass der Steg an unserem Hausbadeplatz wieder draußen ist, damit ist jetzt offiziell Sommer!

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Gebadet habe ich noch nicht, dafür war einfach noch keine Zeit. Entweder ist Tag der offenen Tür in der Musikschule oder Jugendmusikfestival in Västerås oder Nationalfeiertag in Norwegen oder Projektwoche oder Konzert hier oder Pipapo dort…

Das Wetter spielt dieses Jahr echt verrückt, erst diese Woche sind die Bäume wirklich grün geworden, sonst passiert das immer um den 1. Mai herum…

Kleine Anekdote am Rande: Erstmalig haben wir dieses Jahr zu unserem jährlichen Engagement zum norwegischen Nationalfeiertag am 17. Mai nicht nur unser Jugendorchester (ab 7. Klasse) mitgenommen, sondern auch noch unser Juniororchester (4.-6. Klasse) mit schwarzer Uniform, grüner Baskenmütze und weißen Handschuhen ausgestattet und nach Norwegen mitgenommen. Für die Kleinen war es das erste Mal, sowohl in Uniform, als auch marschierend aufzutreten. Auf die Packliste hatten wir daher zusätzlich noch geschrieben, dass es sich empfiehlt, unter der Uniform – je nach Wetterlage – lange Funktionsskiunterwäsche zu tragen, weil Marschieren und Musizieren einerseits eine schweißtreibende Sache sein kann und man andererseits beim Absingen der Hymne und Redengeschwinge und Fahnengedöns schon mal eine Weile regungslos in eiskaltem norwegischem Wind rumstehen muss. Und ne dicke Jacke unter der steifen Uniformjacke, das geht auch nicht.. Hat in Norwegen auch alles wunderbar funktioniert, 12-15°C, bewölkt, etwas Wind, da war die leichte Skiunterwäsche unter der Uniform perfekt.

Nun war gestern also unser „Tag der Musik“ und wieder großes Marschorchester und Tamtam und Trara, aber diesmal morgens um 8 schon an die 20°C. Große Parade um 10 Uhr, ca. 15 Minuten Marsch auf Asphalt in der prallen Sonne, anschließend den ganzen Tag Programm auf der Freilichtbühne im Park, kaum Schatten. Und tatsächlich kam eines der Kinder aus dem Juniororchester mit kompletter langer Skiunterwäsche unter der Uniform…

Kann schonmal passieren im schwedischen Winterfrühlingssommer, dass man den Wechsel der Jahreszeiten einfach so… pardon… verschwitzt.

PS: Auf der Facebookseite meiner Musikschule gibt es ein paar Bilder und ein Video aus Norwegen: Klick.

Wie ich einmal den norwegischen Nationalfeiertag rettete


Hätte mich vor zwei Jahren, wenige Monate vor unserem Umzug nach Schweden bei der Europa-Arbeitsberatung jemand gefragt, wo ich mich in zwei Jahren sehe, hätte ich wohl eine Sache niemals geantwortet: Ich marschiere in Uniform einer Fahne hinterher und spiele eine Nationalhymne. Doch manchmal geht das Leben eben krumme Wege und dann marschiert man eben auch mal hinterher. Dem Leben. Oder auch einer Flagge.


Die Vorgeschichte

Aber von vorne. Meine Musikschule verfügt über ein gut gebuchtes sinfonisches Blasorchester, das bei Bedarf auch paradiert. Als Klavierlehrer hatte ich bisher mit dem Orchester nur marginal zu tun, aber mein Kollege, der das Orchester leitet, hat mich im Hinblick auf die bevorstehende Deutschlandreise des Orchesters überredet mitzuspielen. Eingeweihte wissen vielleicht, dass ich vor vielen Jahren mal Klarinette gespielt habe, aber leider leidet unser Orchester nicht an Klarinettenmangel, im Gegenteil. Wie also einen Pianisten sinnvoll in ein Blasorchester integrieren? Als Fahnenträger? Notenständer? Nein. Mein Kollege konnte sich jetzt einen langgehegten Wunsch erfüllen: ein Glockenspiel für sein Orchester! Zunächst sollte ich Lyra spielen, aber die 25 Kilo Instrument konnte ich nur entweder tragen oder bespielen, aber nicht beides gleichzeitig. So wurde es also ein Glockenspiel, das ich mit einem Tragegestell wie einen Bauchladen vor mir hertrage.

Szenenwechsel. Das Jugendorchester einer kleinen Kommune in Südnorwegen stellte im Frühjahr dieses Jahres seinen Betrieb wegen Mitgliedermangels ein. Das Festkommittee, das die Feierlichkeiten für den norwegischen Nationalfeiertag plante, stellte daraufhin fest: Nationalfeiertag ohne Musik? Undenkbar! So kam man auf die Idee, ein Orchester von auswärts einzukaufen, aber natürlich waren sämtliche norwegischen Orchester an diesem Tag ausgebucht. Auf verschlungenen Wegen landete die Anfrage vor drei Wochen schließlich bei uns. Als wir alle unsere Jugendlichen für einen Tag vom Unterricht befreit hatten und zusagten, ahnten wir noch nicht, welche Medienresonanz diese Reise mit sich ziehen würde.


Schwedisches und norwegisches Presseecho

Ein schwedisches Orchester marschiert am norwegischen Nationalfeiertag an der Spitze des traditionellen Umzuges? Das war manchen Norwegern nicht geheuer und die norwegische (Klatsch)Presse blies die Sache kräftig auf:

Aftenposten
„Hilfe aus Schweden für die die Nationalhymne am 17. Mai – ‚Ich hoffe, wir werden nicht mit Tomaten beworfen‘ sagt der Dirigent“

Auch schwedische Medien witterten einen Skandal und sparten nicht an Spott:

"Schweden helfen Norwegern beim Feiern"
„Schweden helfen Norwegern beim Feiern“ (Borås Tidning)

Aber eigentlich war es doch eher ein Skandälchen, welches es in Ermangelung noch weltbewegenderer Ereignisse in den Ticker der größten schwedischen Presseagentur TT schaffte und damit auch ins schwedische Pendant zur Bildzeitung:

Norrmännen rasar
„Die Norweger sind wütend: Schwedisches Orchester am Nationaltag. Dirigent: ‚Mal sehen, ob wir es wagen können, dort hochzufahren'“

Das Hickhack, dass daraufhin einsetzte, erreichte schließlich seinen Höhepunkt, als das norwegische Staatsfernsehen NRK letzten Montag  in unserer Orchesterprobe auftauchte, flankiert von diversen schwedischen Reportern, die in erster Linie darüber berichteten, dass das norwegische Staatsfernsehen über ein schwedisches Musikschulorchester berichtete. Metaberichterstattung. Kann ich auch :-)


Im norwegischen Fernsehen

Das nicht mal einminütige Filmchen, das aus 2,5 Stunden Bildmaterial entstanden ist, kann man noch ein paar Tage lang auf nrk.no ansehen. Wir proben hier gerade Norwegens inoffizielle Nationalhymne Norge i rødt, hvitt og blått und unser Dirigent verkündet süffisant grinsend, dass das Stück von einem Schweden geschrieben wurde. Und ja – das Plingpling bin ich und ja, mein Kopf ist die letzten 15 Sekunden im Umfang von einem halben Zentimeter zu sehen.


Der große Tag

Schließlich war der große Tag da: der Syttende Mai. Nach einer kurzen Nacht mit Matratzenlager in einer Grundschule versammelten wir uns um 6.30 zum Morgenappell zur Generalprobe auf dem Schulhof und probten ein letztes Mal unsere Marschaufstellung, das korrekte Anlegen der Waffe des Instruments und natürlich Ja vi elsker dette landet, den Gammel Jegermarsj und ähnlich lyrische Stücke, während der Hausmeister die Flagge hisste. Morgenstimmung in Norwegen hatte ich mir bisher immer ganz anders vorgestellt…

Nach dem Frühstück holte uns dann der Bürgermeister persönlich ab und mit unserem Tourbus ging’s zum ersten der drei Umzüge, die wir anführten. Der Ablauf war im Großen und Ganzen jedes Mal der gleiche: Begrüßung und Nationalhymne an Kirche/Schule/Sportplatz, Abmarsch, Zwischenstopp am lokalen Kriegerdenkmal mit Kranzniederlegung, Schweigeminute und Nationalhymne, danach Weitermarsch zu Schule/Sportplatz/Kirche. Dort Ansprache, Nationalhymne und Blümchenübergabe, ein Stück Torte auf die Faust, zurück in den Bus und weiter zum nächsten Umzug. Ein strammes Programm also und leider hatte ich kaum Zeit zum Fotografieren. Aber natürlich war die Lokalzeitung vor Ort:

Weiter zur Bildergalerie des Tønstads Blad
Quelle: Tønstads Blad, Fotograf: Peder Gjersøe (Aufs Bild klicken um weitere Bilder anzusehen.)

Nicht nur der Zeitmangel verhinderte das Fotografieren, auch die Uniformetikette verbietet das Tragen uniformfremder Gegenstände am Körper. Aber ich oller Rebell und Fotonarr konnte es mir nicht verkneifen und hatte trotzdem meine kleine Kamera unter der Uniform versteckt:

Aller negativen Berichterstattung zum Trotz wurden wir sehr freundlich empfangen und zwischen den allgegenwärtigen Norge, hurra!-Rufen hörte man sogar hier und dort ein Heja Sverige! und viele Menschen bedankten sich auch hinterher noch persönlich bei uns, dass wir die lange Reise auf uns genommen hätten, um ihren Nationalfeiertag zu retten.


Als Deutsche in schwedischer Uniform in Norwegen

Und wie fühlt man sich so, als Deutsche, in schwedischer Uniform hinter einer norwegischen Flagge marschierend? Selbst wenn man mal von dem ganzen militärischen Klimbim absieht und ignoriert, dass Märsche, aus denen der Nationalstolz quillt wie Mayonnaise aus schwedischen Krabbenbrötchen, es wohl nicht mehr in meine persönliche Hitliste schaffen werden und wenn man weiterhin darüber hinwegsieht, dass ich im Geschichtsunterricht soviele Guido-Knopp-Dokus sehen musste, dass der Klang marschierender Schuhe in meinem Gehirn unweigerlich mit wackeligen Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Nürnberger Parteitage verknüpft ist, dann kann ich sagen, dass aus mir kein ordentlicher Patriot mehr werden wird, egal in welchem Land ich lebe.

Ich fühlte mich nämlich gestern vor allem als – Europäer. Und das norwegische Triumphgemüse in rødt, hvitt og blått macht sich ganz ausgezeichnet auf unserem Frühstückstisch.

Norwegischer Blumenstrauß

Nachtrag: Hier noch eine englischsprachige Quelle aus Norwegen: Sweden ‘saves’ Norway 17 May following local row