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Empfehlungen dringender Art


Es wird empfohlen, Abstand zu halten. Es wird empfohlen, seine Kontakte zu begrenzen. Es wird empfohlen, von zu Hause aus zu arbeiten. Freiwillige Maßnahmen: Das ist das Besondere am schwedischen Sonderweg in der Corona-Pandemie.

Dass es kaum Verbote gibt und gab liegt vor allem daran, dass Schweden kein Gesetz für zivile Notlagen hat.¹ Diesem Problem begegnete man bereits im Frühjahr mit einem vorläufigen Pandemiegesetz, das allerdings zu spät kam, um überhaupt zur Anwendung zu kommen. Im Herbst war dieses wieder ausgelaufen und so kamen wieder behördliche Empfehlungen. Diese wurden dann im November und Dezember immer schärfer und mittlerweile sind auch bei uns Schulen ab der 7. Klasse geschlossen, an der Kulturschule unterrichten wir auf Distanz, in Stoßzeiten soll man in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Maske tragen, ins Restaurant darf man nur noch zu viert… und am 10. Januar wurde ein Gesetz beschlossen, mit dem die Regierung echte Verbote aussprechen kann – das allerdings noch nicht angewendet wurde.

Das hauptsächliche Mittel Schwedens gegen die Pandemie sind und bleiben Empfehlungen. Das Problem ist nur, dass es in Schweden rekommendation und rekommendation gibt.

Wenn ich eine Kollegin nach einer guten Saite für meine Dienstgeige frage, könnte das so klingen: Kan du rekommendera en fiolsträng? Dann wird sie mir etwas empfehlen und es wäre natürlich gescheit, dieses Produkt zu kaufen – schließlich hat sie Ahnung von Geigensaiten und ich nicht, schließlich bin ich Kontrabassist. Eine rekommendation könnte auch für eine gute Serie auf Netflix oder einen leckeren Wein gelten. Ein anderes Wort wäre hier att tipsa, also einen Tipp geben. Wenn dagegen eine myndighet (Behörde) eine rekommendation ausspricht, dann würde der Thesaurus ein ganz anderes Synonym ausspucken: anbefalla. Das klingt schon ganz anders, fast nach Befehl, und die Empfehlung ist dann auf einmal sehr dringend. Ich muss mich nicht daran halten, mich erwartet keine Strafe bei Missachtung, aber okay ist das nicht. Und die Gesellschaft schaut mich vorwurfsvoll an und ist menschlich sehr enttäuscht von mir.

Aber Spaß beiseite. Aus Sicht einer myndighet ist eine rekommendation eben keine freiwillige Empfehlung, sondern eher so wie ein schwedischer Chef, der mich fragt, ob ich heute noch die Fahrtkostenabrechnung vorbeibringen könnte. Oder ein deutscher Chef, der mir mitteilt, dass die Fahrtkostenabrechnung spätestens heute abend 17 Uhr auf seinem Schreibtisch liegen soll. Also eine klare Anweisung, nur kulturbedingt unterschiedlich formuliert.

Allerdings ist dieser Sprachgebrauch selbst vielen Schweden nicht bewusst, denn wenn nicht gerade Pandemie ist, begegnet dem Durchschnittsbürger eher ein Buchtipp als eine dringende behördliche Empfehlung. Zwar wurde in den letzten Monaten das Thema in allen Medien wieder und wieder durchgekaut – wenn behördlicher Sprech aber so sehr gegen das Sprachgefühl der Allgemeinheit geht, hilft das nicht viel. Das musste ich letzte Woche wieder einmal erleben, als ich mir im Rahmen meines Chorleitungsstudiums (hatte ich das hier schon einmal erwähnt?) von einem Prüfer anhören musste, dass ich für mein Abschlussprojekt doch einfach einen kleinen Chor zusammentrommeln könne, es sei ja nicht verboten. Naja, ist es halt irgendwie doch, aber eben auf dezentestem Behördenschwedisch. Und zum Glück/leider wissen das auch die meisten Chorsänger. Nur anscheinend nicht alle Professoren… Am Freitag werde ich jetzt mit meinem Betreuer über das weitere Vorgehen sprechen – mal schauen, was er mir empfiehlt.

¹ Deshalb wurde im schwedischen Pendant zu heute-show der Vorschlag gemacht, man könne doch Norwegen bitten, uns den Krieg zu erklären, ein paar Soldaten auf einem Campingplatz direkt hinter der Grenze einquartieren um dann mit Hilfe des Kriegsrechts einen Lockdown zu erlassen.

Erkenntnisse und Widersprüche


Ich lerne gerade viel. Über Schweden und die Welt. Über mich selbst. Wie tief es in meiner Erziehung sitzt, dem Staat ein gesundes Misstrauen entgegenzubringen (und ich bin ein vertrauensseliger Mensch…). Darüber, was es heißt, diametral anders zu denken, als die Menschen um einen herum.

Ich versuche, ein paar zugängliche Kollegen mit Argumenten zu erreichen, warum das Agieren unserer Regierung und der Folkhälsomyndighet problematisch ist: Dass hier Risiken eingegangen werden, die völlig unverantwortlich sind; dass es Experten gibt, die schon seit Wochen und Monaten vor Untätigkeit warnen; dass andere Länder uns warnen; dass es einen Unterschied gibt zwischen Facebook-Gerüchten und seriösen Wissenschaftlern, die in der Presse eine öffentliche Debatte zu führen versuchen. Die meisten gucken mich schief an, als ob ich ein Flat Earther wäre. Andere stimmen mir sofort zu und regen sich mit mir zusammen auf. Dabei mache ich immer wieder die gleiche Beobachtung: Fast alle, die das schwedische Agieren mit Sorge betrachten, haben irgendeinen familären Kontakt ins Ausland, sind dort geboren, haben Eltern oder Partner aus anderen Ländern, sind gut darüber informiert, wie man außerhalb Schwedens die Pandemie bewertet. Die „reinen“ Schweden vertrauen auf ihre Folkhälsomyndighet. Was soll man denn sonst machen?

Seit gestern abonniere ich das Svenska Dagbladet, eine der größten und seriösesten schwedischen Tageszeitungen. Ich glaube, dass diese zu mir ungefähr so gut passt wie die FAZ, aber im Moment bietet sie Forschern ein großartiges Forum für eine öffentliche Debatte. Beide Seiten werden gehört und publizieren Kommentare, Aufrufe und öffentliche Briefe. Das unterstütze ich. Gerade diese Debatte wird hier nämlich von Seiten der Folkhälsomyndighet unterdrückt, indem man andere Stimmen diskreditiert und vor allem die eigenen Daten nicht öffentlich macht – in Schweden, dem Land des Öffentlichkeitsprinzips. Daher fordert eine Gruppe von Forschern, die gerade gegen das Informationsmonopol der Folkhälsomyndighet ankämpft, dass eine Expertengruppe eingesetzt werden muss, die als zweite Stimme die Regierung berät, zusammen mit der öffentlichen Behörde.

Gerade habe ich diesen Artikel gelesen, der eine Beobachtung analysiert, die ich bisher nur in Teilen begriffen habe. Denn es ist faszinierend, wie weit ein guter Teil der Bevölkerung geht, um den Empfehlungen der Fölkhälsomyndighet zu folgen: Kratzen im Hals? Dann bleibe ich mal lieber zu Hause. Am morgen gehustet? Drei Tage nicht zur Schule gehen. Hände waschen? Bis die Haut weg ist. Vielleicht braucht es in Schweden keine ganz so drastischen Maßnahmen, weil man sich wirklich an die Vorgaben hält; weil man ja der Behörde vertraut. Zu einhundert Prozent.

Oder?

Die Folkhälsomyndighet rät bisher von kaum einer Einschränkung des öffentlichen Lebens ab. Trotzdem sind die Innenstädte deutlich leerer als sonst, die Kinos geschlossen, in den Restaurants sitzt fast niemand. Man geht kaum noch ins Fitnesstudio, arbeitet schon seit letzter Woche von zu Hause, obwohl die Empfehlung erst vor einigen Tagen kam. Manche Freischulen machen dicht. Natürlich gibt es auch die anderen, die nicht auf ihr Après-Ski halt nicht verzichten oder es als ältere Mitbürger alleine zu Hause einfach nicht aushalten.

Warum gehen nun trotz aller Vertrauensbekundungen so viele Schweden viel weiter in ihren Taten, als es die Folkhälsomyndghet ihnen empfiehlt? Weil man mehr Rücksicht auf die Schwachen in der Gesellschaft nimmt als anderswo? Oder hat man vielleicht doch mehr Angst vor der Krankheit, als man es zugeben möchte? Auf jeden Fall spricht das Verhalten vieler Schweden nicht gerade dafür, dass man der Folkhälsomyndighet wirklich zu einhundert Prozent vertraut. Es klingt eher so, als ob man durchaus auch auf andere Stimmen aus den In- und Ausland hört, die zu größerer Vorsicht mahnen. Aber warum fällt dann wiederum kaum jemandem dieser Widerspruch auf?

Ich weiß nicht, was ich mit diesen Erkenntnissen machen soll und welche Bedeutung sie haben. Wie gesagt, ich lerne. Und was ich auch lerne, ist dass das viele Lernen unglaublich müde macht. Zum Glück ist jetzt erst einmal Wochenende und die Osterferien sind nicht mehr weit. Ich brauche jetzt schon eine Coronapause und denke an die Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern, die wohl noch einige Monate auf die nächste Auszeit warten müssen.