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Musikschule in Schweden


Nach fünf Wochen im neuen Job stehen jetzt die ersten Ferien vor der Tür. Da Fasching und Co. in Schweden unbekannt sind, heißt das hier Sportferien und konsequenterweise fahren auch 80% meiner Schüler in die großen schwedischen Skigebiete in Åre und Sälen. Aber auch wir haben gerade 15 cm Neuschnee und kein Tauwetter in Sicht. Aber bevor wir uns in die Loipen stürzen, wollte ich mal ein bisschen von meinem neuen Job erzählen.

Üblicherweise hat jede schwedische Kommune eine Musik- oder Kulturschule, ggf. mit Außenstellen in verschiedenen Orten oder Stadtteilen. Lediglich eine Handvoll der 290 Kommunen in Schweden haben keine Musikschule. Und wir? Wir wohnen in einer Kommune mit zwei kommunalen Musikschulen. Das hat vor allem historische Gründe, denn in den 70er Jahren wurden hier vier kleinere Kommunen von der großen Stadt eingemeindet. Vier Gemeinden? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, der Eingemeindung Widerstand zu leisten. Und da wohnen wir jetzt.

Auf dem Papier wurde die Eingemeindung zwar vollzogen, aber das gallische Dorf hat sich in vielen Punkten seine Eigenständigkeit bewahrt. Dazu gehört auch der Luxus einer eigenen Musikschule. Dort sind wir 7 Lehrer in Vollzeit (Streichinstrumente, Blechblasinstrumente, Holzblasinstrumente, Zupfinstrumente, Schlagwerk, Querflöte/Gesang und Klavier/Blockflöte) und dementsprechend familiär geht es zu.
(Zum Vergleich: In der großen Stadt, also in der Kulturschule, in der Jonas unterrichtet, gibt es über 50 Lehrer. Zusätzlich zum Instrumentalunterricht werden dort auch die Fächer Tanz, Theater, Kreatives Schreiben, Bildende Kunst, Zirkus, Textildesign, Comiczeichnen und digitale Musikproduktion angeboten.)

Alle (!) Erstklässler in unserer Kommune lernen ein Jahr lang das Angebot der Musik-/Kulturschule kennen. In Deutschland heißt sowas oft Instrumentenkarussell und ist ne feine Sache, aber eben nur, wenn sich die Eltern darum kümmern und das Kind anmelden (und dafür bezahlen). Hier heißt es kulåret, das „Lustigjahr“, und es steht einmal die Woche im Stundenplan. Jeweils vier Wochen lang kommen die Musikschullehrer in die Klasse (bei mir in den Dorfschulen sind das etwa 8-14 Kinder) und stellen ihre Instrumente vor. Der Klassenlehrer bleibt in dieser Zeit im Raum, was die Sache für alle Beteiligten einfacher macht. Oft sind auch noch weitere Erwachsene im Raum, denn Kinder „mit Diagnose“ (wie ADHS, Autismus, Leserechtschreibschwäche oder auch Downsyndrom) oder einer körperlichen Behinderung haben ein Anrecht auf einen personlig assistent, der sie den ganzen Tag begleitet und im Unterricht unterstützt, damit sie auf die gleiche Schule gehen können wie die Nachbarskinder auch.

Am Ende der ersten Klasse kennen die Kinder dann das komplette Angebot der Musikschule und dürfen wählen, welches Instrument sie spielen möchten. Auf diese Weise stürzen sich nicht alle nur auf die „coolen“ Instrumente Gitarre und Schlagzeug, nur weil sie nichts anderes kennen.

Als Zweitklässler kann man dann an der wöchentlichen „Orchesterschule“ in der Musikschule teilnehmen. Egal mit welchem Instrument, auch mit Gitarre, Blockflöte oder Klavier. Zu Beginn trifft sich das ganze Orchester + alle Instrumentallehrer und man singt ein gemeinsames Begrüßungslied, dann gehen die Lehrer mit ihrer Gruppe für eine halbe Stunde in den eigenen Unterrichtsraum und man erarbeitet gemeinsam ein Stück, das in den letzten zehn Minuten in voller Besetzung geprobt wird. Wir reden hier natürlich „nur“ von Stücken im Ein- bis Fünftonraum, aber wenn dann die Lehrer auch noch mitspielen, klingt das trotzdem nach ziemlich viel.

Alternativ oder zusätzlich können die Kinder ab der zweiten Klasse auch Einzelunterricht bekommen. In meiner Musikschule ist es so, dass der Instrumentalunterricht zusätzlich zum normalen Musikunterricht im Klassenverbund in den Schulalltag eingebunden ist. Ab zwei Schülern pro Instrument und Schule kommt der Musikschullehrer während der Unterrichtszeiten an die Grundschule, sodass die Eltern nicht nachmittags Taxi spielen müssen.

Vormittags bin ich daher öfters auswärts im Radius von 10 km unterwegs und warte im Musiksaal oder eigenen Klavierraum einer Grundschule auf meine Schüler, die für den Klavierunterricht dann eben 20 Minuten Mathe, Schwedisch oder was-auch-immer verpassen. Natürlich versuchen wir zusammen mit den Klassenlehrern, den Unterricht so zu koordinieren, dass nicht gerade ein Fach betroffen ist, das dem Schüler schwerfällt. In der kleinsten meiner Auswärtsschulen (66 Kinder in 6 Klassenstufen) ist der Musiksaal in der Bibliothek. Oder umgekehrt, wie man’s nimmt.

Musiksaal=Bibliothek

In den meisten Grundschulen herrscht drinnen Straßenschuhverbot und die Kinder gehen auf Strümpfen, was bei mir immer irgendwie ein Wohnzimmerfeeling erzeugt. Sogar viele Lehrer tragen keine Hausschuhe, nur Wollsocken. Nur ich komischer Ausländer komme mir wahnsinnig blöd vor, in Socken zu unterrichten. (Außerdem pedalisiert sich’s auf Socken so schlecht). Ständig Hausschuhe mit mir rumschleppen will ich aber auch nicht und für diesen Notfall gibt es am Eingang der Schulen immer ein Körbchen mit schlumpfblauen Plastikkondomen für die Füße:

Fußkondome

Die älteren Grundschüler (ab 7. Klasse) kommen dann meist nachmittags in die Musikschule. Nicht, weil Teenagereltern eher als Fahrdienst dienen sollen, sondern weil die einzige Grundschule des „gallischen“ Teils der Kommune für die Klassen 7-9 neben der Musikschule liegt und Schule ja ohnehin eine Ganztagesangelegenheit ist.

Haus der Musik

In meinem Unterrichtsraum habe ich zwei Klaviere und zwei E-Pianos, was äußerst komfortabel ist. Eine gewöhnliche Unterrichtsstunde dauert zwar nur zwanzig Minuten (was ich persönlich ein bisschen zu kurz finde, zumindest bei den engagierteren Schülern), aber so kann ich die Schüler ein bisschen früher bestellen, sodass sie sich mit Kopfhörern am E-Piano einspielen können, während ich noch mit dem vorhergehenden Schüler beschäftigt bin.

Unterrichtsraum

Eigentlich ist Einzelunterricht bei uns der Standard, aber ich habe auch ein paar Zweiergruppen, die auf eigenen Wunsch zusammen Unterricht haben. Logischerweise dauert der Unterricht dann 40 Minuten. Nur Gymnasiasten, also Schüler der 10.-12. Klasse, erhalten 40 min Unterricht pro Woche. Anfangs waren die 20 Minuten für mich etwas gewöhnungsbedürftig, aber ich habe mich inzwischen dran gewöhnt.

ABIIIII!!!


Alle schriftlichen Prüfungen, die ich seit meinem Abitur absolviert habe, liefen eigentlich immer nach dem gleichen Schema ab: ich hatte monatelang vorher den Termin und das Thema und schob die Prüfungsvorbereitung je nach Prüfung bis zu drei Wochen oder drei Tage vor der Prüfung vor mir her, natürlich mit wöchentlich schwärzerem Gewissen. Dann folgte eine Phase der intensiven Vorbereitung, in der ich weitgehend auf Schlaf, Essen und soziale Kontakte verzichtete. Die Nacht vor der Prüfung war ich zwar meist so vernünftig nicht mehr zu lernen, geschlafen habe ich aber trotzdem wenig.

Am Prüfungsmorgen war mir dann vor Aufregung (und Schlafmangel) so schlecht, dass an Frühstück nicht zu denken war. Stattdessen hatte ich dann für die Prüfung Fresspakete, die für eine siebentägige Fjällwanderung ausgereicht  hätten.

Die vier- oder fünfstündige Prüfungszeit habe ich dann bis zur letzten Sekunde ausgenutzt um an meinen Texten zu feilen und ohne auch nur einen Bissen zu essen. Nach der Prüfung saß man dann mit den Kurskollegen zusammen und diskutierte über Fragestellung und ob 16 Seiten nicht doch ein bisschen wenig waren um die Geschichte der Schriftentwicklung in ihrer vollen Komplexität zu erörtern. Anschließend folgten einige Wochen des Wartens auf das Ergebnis, dessen Veröffentlichung nochmal fast genauso aufregend war wie die Prüfung selbst.

Die anschließenden Saufgelage, Autokorsos und das steinzeitliche Urgebrüll meiner Klassen- und Studienkameraden habe ich allerdings nie richtig nachvollziehen können, ich Spaßbremse…

Heute hatte ich meine nationale Prüfung in Svenska som andraspråk B. Die Prüfung ist die gleiche wie die, die schwedische Schüler am Ende ihrer Gymnasialzeit ablegen – unabhängig davon, ob ihre Muttersprache Schwedisch oder eine andere Sprache ist. Zwar gibt es unterschiedliche Kurse für Muttersprachler und Nichtmuttersprachler, die Prüfungsaufgaben und -anforderungen sind jedoch schlussendlich die gleichen und werden zentral vom Skolverket herausgegeben.

In dieser Prüfung ging es daher auch nicht mehr um Vokabel- oder Grammatikkenntnisse, sondern vor allem um die Fähigkeit, einen sinnvoll aufgebauten Text zu produzieren – also eine Fähigkeit, die meines Erachtens ziemlich unabhängig von der Frage Fremd- oder Muttersprache ist.

Aus organisatorischen Gründen (dazu demnächst mehr) musste ich meine Prüfung etwas vorziehen, denn der offizielle Prüfungstermin ist eigentlich erst im Mai. Dank des familiären Klimas und der wenigen Schüler an unserem kleinen Ale komvux (Erwachsenengymnasium) war das aber glücklicherweise kein Problem. Mein jetziger Schwedischlehrer hat mich von Anfang an als Kollegin betrachtet, die die gleiche Qualifikation hat, wie er selbst – nur eben in einer anderen Sprache.

Und was soll ich sagen… seit vier Wochen standen Termin und Oberthema meiner „Schwedisch-Abiturprüfung“ fest. Ich bekam ein 20seitiges Heft mit verschiedenen Texten zum Thema „Engagement und Einfluss“, das ich mir gestern Abend durchgelesen habe. Dann habe ich gut geschlafen, normal gefrühstückt und meinen achtseitigen Text über die Frage „Was beeinflusst unser Verhalten mehr: biologische Faktoren oder unsere Umwelt?“ nach zwei statt fünf (möglichen) Stunden abgegeben.

Eine halbe Stunde später erhielt ich per SMS das Ergebnis: „Guter Text und gute Note. Lass dir von Gunilla dein Zeugnis mit MVG ausdrucken. Viele Grüße, S.“

Damit habe ich in sieben Monaten drei Schwedischkurse durchgezogen und darf mit diesem Zeugnis z.B. ohne weitere Sprachprüfung an einer schwedischen Uni studieren.

Seitdem ich im Januar angefangen habe zu arbeiten, habe ich jedoch nicht mehr viel für den Kurs getan. Zuletzt ging es ohnehin nur noch um Literatur- und Sprachgeschichte und kaum noch um den Ausbau von Wortschatz oder Grammatik. Das fand ich persönlich etwas schade, weil Literatur“wissenschaft“ auf Grundkursniveau für mich – gelinde gesagt – sterbenslangweilig war. Umso schöner, dass die Prüfung so herrlich unkompliziert, erfreulich und vor allem: stressfrei! lief. Ganz ohne Mangelernährung und Schlafentzug.

Seit sechs Monaten in Schweden – I


Heute vor sechs Monaten, an einem Dienstag im August, sind wir in Schweden angekommen. Zeit also für einen kurzen Zwischenstand. Ausgehend von unseren Kategorien in der rechten Spalte werden wir die nächsten Tage ein wenig auf das letzte halbe Jahr zurückblicken.

Arbeta och studera – arbeiten und studieren:

Jonas:
Als Komponist habe ich fantastische Bedingungen an der Göteborger Musikhochschule. Meine Auftragskomposition für großes Orchester wird im April uraufgeführt und demnächst beim Sirén-Festival, bei dem drei Tage lang die ganze Hochschule im Dienste der Kompositionsklasse steht, stehen drei meiner Stücke auf dem Programm (mehr dazu). Die Chemie zwischen mir und meinen drei Hauptfachlehrern (Komposition, Komposition und Komposition) stimmt ebenfalls und mit meinen Kommilitonen komme ich immer mehr in Kontakt – ich bin ja nicht so oft in Göteborg und daher ergeben sich auch nicht so viele Möglichkeiten für Diskussionen mit den anderen Kompositionsstudenten der Hochschule.
Auch hier bei uns in der Kommune bin ich bereits als Komponist angekommen und erhielt von unserer Kommune Ale das Kulturstipendium 2011, was die Lokalpresse auch gebührend würdigte

Annika:

Die Dinge gehen vielleicht nicht immer gerade, aber immer irgendwie vorwärts...

Es hat zwar fünf Monate gedauert, aber im Januar hat es dann endlich mit einer Anstellung geklappt. Fünf Monate waren länger als erhofft, aber kürzer als befürchtet. So richtig fest im Sattel sitze ich zwar noch nicht, weil der Job nur teilzeit und befristet ist, aber dennoch fühlt es sich für den Moment gut an. Zumal sich allmählich zeigt, dass ich immer öfter zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werde und eine unbefristete Festanstellung in einer Position, in der ich mich weder über- noch unterfordert fühle, nicht völlig außer Reichweite ist. Also alles im gelben Bereich mit Tendenz ins Grüne.
Außerdem profitiere ich von den zahllosen kostenlosen Weiterbildungsangeboten hier in Schweden. So viele Sprachkurse und eine Weiterbildung im Projektmanagement hätte ich mir in Deutschland nicht leisten können.


Vikariat


Anders als in Deutschland, wo jede Schule tagtäglich aufs Neue jongliert, wenn Lehrkräfte kurz- oder längerfristig ausfallen, ist das Vertretungslehrersystem in Schweden kommunal organisiert. Stellt eine Schule fest, dass eine Lehrkraft ausfällt, dann ruft sie in der kommunalen Vertretungslehrerzentrale an, die dann aus einem Vertretungslehrerpool jemanden sucht und direkt zur entsprechenden Schule schickt. Das hat den Vorteil, dass dadurch insgesamt weniger Stunden ausfallen, weil es hier sehr viele kleine Schulen gibt, die gar keine Ressourcen hätten, sich anders zu organisieren. Andererseits haben die Vertretungslehrer so kaum eine Chance, sich auf den Unterricht vorzubereiten und natürlich kennen Lehrer und Schüler einander dann auch nicht.

Vor kurzem habe auch ich mich im lokalen Vikariepool registriert und prompt klingelte am Dienstagmorgen mein Handy mit einer Anfrage der kommunalen Vertretungszentrale, ob ich am selben Tag nachmittags ein vierstündiges vikariat (nein, ich will nicht Pfarrer werden) in einer förskola übernehmen könnte, dort sei ein förskolelärare krankgeworden. Vorschule heißt hier alles, was vor der Schule kommt, also Kinder von 1-5/6. Da in meinem Profil ausdrücklich steht, dass ich für größere Kinder ausgebildet bin, war ich zwar etwas überrascht über die Anfrage, aber Lehrer ist Lehrer und Job ist Job und immerhin habe ich jahrelange Erfahrung als Babysitter (schönen Gruß an die „Babys“, falls ihr hier zufällig vorbeischaut…).

Ablehnen ist in so einer Situation keine gute Idee, denn wenn man sich im Kalender der Online-Plattform für einen bestimmten Zeitraum als arbeitsbereit ankündigt und dann dennoch eine Vertretung für diesen Zeitraum ablehnt, kriegt man eine Notiz im Profil, die drei Monate lang gespeichert wird. Mit fünf Notizen fliegt man aus dem Pool, aber ich vermute, dass auch schon mit weniger Notizen die Chancen auf zukünftige Vermittlungen sinken.

Mit Babysittererfahrung und polizeilichem Führungszeugnis im Rucksack (das war die einzige „harte“ Voraussetzung, um in den Vikariepool aufgenommen zu werden) stand ich dann also pünktlich um eins auf der Matte der Apfelgruppe, die aus elf Drei- und Vierjährigen bestand. Und drei Betreuerinnen, davon eine Praktikantin. Ich wusste weder, was ich erwartete, noch was mich erwartete, denn das letzte Mal, dass ich einen Kindergarten von innen gesehen habe, war vor über zwei Jahrzehnten und ungefähr 1300 km von hier. Ach nein, vor acht Jahren oder so war ich noch beim Sommerfest eines meiner „Babys“, zählt das?
Nun ja, die beiden Vorschullehrerinnen begrüßten mich zwar sehr freundlich, machten aber keinerlei Anstalten, mich in irgendeiner Form einzuweisen; von den Namen der Kinder mal abgesehen – die ich nach ungefähr zehn Sekunden wieder vergessen hatte, weil ich gerade in die Spielgruppe „Frisör“ einiger Apfelmädchen integriert wurde und mich gegen einen Kamm im Ohr zur Wehr setzen musste. Ich wusste daher bis zuletzt nicht, ob und wenn ja: wo es eine Toilette für Menschen gibt, die schon wissen, wie man damit umgeht oder ob das …ähm… Trainingsgelände auch für die fröken* vorgesehen war.

Habe daher den Nachmittag lang darauf verzichtet, etwas zu trinken, um das Problem zu vermeiden. Auch so überflüssige Sachen wie Erste-Hilfe-Kasten oder wo das Telefon steht, hat man mir nicht gezeigt. Wäre ja auch alles halb so wild gewesen, wenn ich nicht die letzten eineinhalb Stunden mit den elf Äpfelchen alleine gewesen wäre. Das war anscheinend auch kein Zufall, sondern wohl von vornherein so im Arbeitsplan vorgesehen. Kurz nachdem ich gekommen war, ging die Praktikantin heim, eine Stunde später packte die Nächste ihre Sachen und um halb vier verschwand Erzieherin Nr. 3. Dass sie vorher nochmal die vier Kinder gewickelt hat, die noch nicht stubenrein waren, dafür war ich ihr sehr dankbar.

Das heißt jedoch nicht, dass die anderen sieben Äpfel diesbezüglich deutlich weiter gewesen wären, aber ich möchte jetzt nicht ins Detail gehen. Zum Glück waren alle Kinder so selbstständig, dass sie mir zeigen konnten, wo ihre Kiste mit den frischen Klamotten stand. Und Freundschaften unter Dreijährigen reichen glücklicherweise so weit, dass man sich gegenseitig auch mit Unterhosen aushilft.
Alles in allem war ich dennoch positiv überrascht, wie selbstständig die Kinder waren. Beim Nachmittagsfika wollte ich intuitiv die volle 1,5-Liter-Packung Milch nehmen und für alle an meinem Tisch einschenken, aber da traf ich auf höchste Entrüstung! Das macht man doch selbaaa! Und tatsächlich, in diesem Fall ging wirklich kein Tropfen daneben (anders als… aber lassen wir das).

Die letzte Stunde war dann trotzdem hart. Gegen vier wurden die elf Äpfel nämlich langsam müde und dementsprechend quengelig und weinen ist ja bekanntlich in dem Alter ansteckend. Da weint man schonmal aus Solidarität mit der besten Freundin mit, wenn bei der der Strumpf verkehrtherum am Fuß sitzt und die Antirutschnoppenschweinchen alle auf statt unter dem Fuß sitzen. Zumindest habe ich das so verstanden, denn weinende Dreijährige zu verstehen, finde ich ja schon auf Deutsch nicht immer einfach. Als der Strumpf dann umgedreht war, war die Welt aber wieder in Ordnung und mein Knie frei für den nächsten Patienten.

Das war Alexander, der auf einen Legostein getreten war. Auf meine Frage, wie er heiße (strategisches Ablenkungsmanöver!), antwortete er mit nuschlnuschl.
– Na komm, nuschlnuschl, setz dich mal her zu mir, dann schaun wir mal nach dem Fuß.
– Nääääj! Jag heter Alexander: A-L-E-X-A-N-D-E-R, R-E-D-N-A-X-E-L-A!
Auf meine Frage, wie alt er sei, streckte er mir drei Finger entgegen. Und dann tat der Fuß auch nicht mehr weh.

Insgesamt schien es keines der Kinder sonderlich zu stören, dass da auf einmal ein fremdes fröken saß. Auch die Eltern wirkten beim Abholen kaum überrascht, dass da jemand ganz Fremdes auf ihre Kinder aufpasste. Irgendwie war ich wohl die Einzige, die das seltsam fand. (Ok, wenn wirklich was Ernstes gewesen wäre, wäre im Nachbarhaus auch noch die Pfifferlingsgruppe gewesen. Aber trotzdem.)

Ich glaube, ich habe mich ganz gut geschlagen, vor allem in meiner Paradedisziplin „Vorlesen mit verschiedenen Stimmen“. Ein paar Äpfelchen waren zwar traurig, dass ich mit ihnen nicht das Schmetterlingslied singen konnte, dafür haben sie wahrscheinlich noch zu Hause das Lied von den deutschen Bienchen gesungen. Mein stimmhaftes „s“ in SummSummSumm hat sie nämlich schwer beeindruckt.
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*Fröken – wörtl.: Fräulein, die übliche Anrede der Kinder für die Vorschulpädagogen (auch männliche!), obwohl das Wort aus dem restlichen schwedischen Sprachgebrauch völlig verschwunden ist und sich die Vorschullehrer auch heftig dagegen wehren, so genannt zu werden.

Nationale Prüfung – das war’s


Heute hatte ich den mündlichen Prüfungsteil meiner nationalen Prüfung. Zuerst hörte ich einen sechsminütigen Ausschnitt aus einem Hörbuch und anschließend stellte Anna mir einige Fragen dazu, die weitaus tiefergehenden Charakter hatten, als die im gestrigen Lesetext. Ich sollte die beiden Hauptfiguren des Textausschnittes und ihre Beziehung zueinander charakterisieren und ihr Lebensumfeld beschreiben. Da es um zwei autovernarrte Teenager ging, die in einer Oldtimerwerkstatt arbeiteten, fielen im Text zwar einige Wörter, die jetzt nicht gerade zu meinem schwedischen Alltagswortschatz gehören, aber darum gings letztendlich auch nicht. Anschließend sollte ich noch meine Meinung dazu äußern, ob ich den Text für eine angemessene Lektüre für 15jährige halte. Nein, ich finde natürlich, 15jährige sollten klassische Dramen lesen…

Anschließend durfte ich meine gestrigen Prüfungsergebnisse einsehen, welche sich mit meinem Bauchgefühl deckten. Jetzt bleibt also nur noch der schriftliche Teil – dachte ich. Denn zum Schluss zug Anna einen meiner letzten Aufsätze heraus und sagte, sie habe ihn nach den Kriterien für die nationales Prüfung korrigiert. Damit sei ich nun mit dem gesamten Kurs fertig und könne nächste Woche mein Zeugnis abholen. Mit Höchstnote, ohooo… Es gibt nämlich genau drei Noten: icke godkändgodkänd und väl godkänd (nicht bestanden, bestanden und gut bestanden). Auch das ein großer Unterschied zu Deutschland, aber in Sachen Noten wurde in Schweden in den letzten Jahren viel reformiert und sich durch ein differenzierteres Notensystem eher in Richtung Deutschland bewegt. Schade eigentlich – ich finde das so viel entspannter.

Außerdem wurde im Wahljahr 2010 heiß debattiert, ob die Schüler zukünftig ab Klasse 6 oder ab Klasse 8 die ersten Noten bekommen – die aktuelle bürgerliche Regierung beschloss letztendlich, dieses Schuljahr erst in Klasse 8 Noten einzuführen und ab Herbst 2012 schon in Klasse 6. Und jetzt denken wir nicht daran, dass in einigen deutschen Bundesländern spätestens ab der dritten Klasse Eltern und Schüler anfangen, für bessere Noten notfalls auch die Hobbys zu streichen, damit die Noten auch für das Übertrittszeugnis fürs Gymnasium reichen… (Stichwort „Grundschulabitur“)

Nationale Prüfung und Gedanken zum Muttersprachunterricht


Als Anfang September mein Schwedischkurs begann, bin ich ja direkt in den Kurs SAS grund eingestiegen, der kommenden Juni mit der nationalen Prüfung abschließt, die auch schwedische Neuntklässler am Ende ihrer Grundschulzeit ablegen. Sowohl im „normalen“ Schulsystem als auch in der kommunalen Erwachsenenbildung komvux (kommunala vuxenutbildning) wird zwar der Schwedischunterricht für Muttersprachler und Nichtmuttersprachler getrennt durchgeführt, die Prüfung am Schluss ist aber für alle gleich. Als erwachsene Nichtmuttersprachlerin schreibe ich also exakt die gleiche Prüfung mit den gleichen Texten und Aufgaben wie die schwedischen Jugendlichen am Ende ihrer neunjährigen Grundschulzeit.
Die Prüfung SAS grund besteht aus drei Teilen (Leseverständnis, Textproduktion und eine mündliche Prüfung), die an verschiedenen Tagen stattfinden, welche vom Skolverket, der Schulbehörde, festgelegt werden. Aber wer jetzt an den Staatsakt denkt, der z.B. beim Zentralabitur in Baden-Württemberg mit Sicherheitstransportern, versiegelten Umschlägen und anderem Bürokraborium zelebriert wird, der liegt falsch. Irgendwie wird das hier eine Nummer lockerer gehandhabt…

Seit drei Wochen besuche ich parallel den Kurs SAS A – das ist sozusagen eine Klassenstufe höher – weil Anna, meine Lehrerin in SAS grund bald gemerkt hat, dass ich mich etwas langweile. Deswegen hat sie auch beschlossen, dass ich die nationella prov schon jetzt machen könnte. Gestern drückte sie mir zu Beginn der Stunde ein 16seitiges Heft in die Hand, das Pflichtlektüre für die nationale Prüfung ist. Darin waren Sachtexte, Zeitungsartikel, Kurzgeschichten, Gedichte und auch ein paar Bilder. Die Texte sind Grundlage für die Leseverständnisprüfung und eigentlich dazu gedacht, sie im Unterricht mehrere Wochen lang durchzukauen. Nach einer halben Stunde war ich damit durch und hatte nicht das Bedürfnis, mich noch nennenswert länger damit zu beschäftigen. (Endlich zahlt sich mein Germanistikstudium mal aus…!) Ich ging also wieder zu Anna, um sie nochmal genauer zum Aufbau der Prüfung zu befragen, die ich kommenden Montag ablegen sollte. Sie schaute erst etwas ungläubig, ob ich wirklich schon mit dem Heft durch wäre, akzeptierte das dann aber und bot mir an, die Prüfung schon am nächsten Tag zu machen. Und so habe ich heute die erste Teilprüfung abgelegt und ich bereue bislang nicht, mich nicht länger vorbereitet zu haben. Soviel also zum Thema nationale Prüfung…
Spannend finde ich aber, dass ich die offiziellen Prüfungstexte und den offiziellen Prüfungsbogen fürs Schuljahr 2011/12 hatte. Ob die Teenies im Februar dann wirklich die die gleiche Prüfung schreiben wie ich heute…? Irgendwie kann ichs mir ja nicht vorstellen. Aber vielleicht erschließt sich mir da gerade eine ungeahnte Einnahmequelle auf schwedischen Schulhöfen…

Als ich meine Prüfung abgab, meinte Anna dann, dass wir doch auch gleich morgen den mündlichen Teil machen könnten. Klar, warum nicht… Und der dritte Teil kommt dann Anfang November, wenn mein Kurs gerade seine erste Zwischenprüfung schreibt.

Die Prüfung heute war… nun ja… einfach. Einige Multiple-Choice-Fragen, viele Fragen, die sich mit ein paar Worten beantworten ließen und zwei bis drei tiefergehende Fragen nach Text-Bildzusammenhängen. Knietief, nicht schwimmtief. Offentlich scheinen schwedische Kinder in den ersten neun Jahren noch sehr viele andere Dinge im Schwedisch-Unterricht zu lernen die nicht abprüfbar sind, denn ansonsten wäre diese Prüfung – mit Verlaub – ein Witz. Die Texte selbst, allesamt authentisch, waren an sich angemessen was Inhalt und Sprachniveau angeht, aber die Fragen dazu waren teilweise grenzwertig naiv.

So sehr ich mich auch darüber freue, wie unkompliziert das mit Schwedischlernen hier ist, so sehr wundere ich mich aber auch über die Inhalte und das Niveau. Nein, ich kritisiere es nicht, ich wundere mich. Und ich stelle Tag für Tag den Muttersprachunterricht in Deutschland mehr in Frage. Gut, von innen kenne ich nur baden-württembergische Gymnasien und das ist ja auch nur ein Bruchteil der 16 deutschen Schulsysteme. Dafür kenne ich da sowohl die Anforderungen, die an die Schüler, als auch die, die an die Lehrer gestellt werden, aus eigener Erfahrung.

Schwedisches Schulbuch für die 9. Klasse, Schwedisch als Zweitsprache

Ich frage mich, warum sich dort die 15jährigen durch den Kanon der deutschen Klassiker und Barocklyrik durchackern müssen, während hier Jugendliteratur der letzten 15-20 Jahre im Unterricht gelesen wird. Warum dort Reimschemata, Versmaße und verschiedene Strategien der Dramenanalyse und -interpretation gepaukt werden und man hier erklärt, welche Gefühle man bei der Lektüre eine bestimmten Buches hatte und ob einem das Buch gefallen hat. Warum dort ein Autor mindestens tot oder Nobelpreisträger sein muss, bevor man ihn als Schullektüre würdigt und hier Håkan Nesser und Henning Mankell im Unterricht gelesen werden.

Offensichtliches Unterrichtsziel hier scheint die Freude am Lesen und der Abbau eventuell vorhandener Berührungsängste mit Zeitungen zu sein, denn jede Woche schreibe ich mehrere fiktive Zeitungstexte – Leserbriefe, Kommentare, usw. – die vor allem darin bestehen, seine persönliche Meinung zu irgendeinem Thema auszudrücken. (Vielleicht müssen die konsensorientierten Schweden das wirklich üben?)

Die Germanistin und Musikerin in mir erinnert sich natürlich an zahllose Seminare, die der Einübung der Rechtfertigung des eigenen Faches dienten. Warum es so wichtig ist, unsere Kinder an Bach und Kant, Schiller und Mozart, Schönberg und Goethe geistlich und sittlich reifen zu lassen.
Natürlich habe ich das nicht vergessen und die „klassische Bildung“ (was auch immer das letztendlich ist) steckt auch zu tief in meiner Seele als dass ich ihren Nutzen völlig in Frage stellen möchte. Auf der anderen Seite frage ich mich, ob diese Haltung nicht an der Mehrheit der Schüler vorbeigeht, mögen die Lehrer auch noch so toll ausgebildet und motiviert sein. Und ob der Sache letzten Endes nicht mehr dadurch gedient wäre, wirkliche Begeisterung für Literatur durch spannende Jugendbücher zu wecken als den Götz von Berlichingen mit ach-so-schülerzentrierten Methoden wie Standbildern nachzutanzen oder den  Werther als Foto-Love-Story im Bravo-Stil oder als Manga nachzuerzählen.